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AUTOR VON "HAHNENSCHREIE", "LIEBESBRIEF AN FREMDEN KÖNIG" UND SCHILLER-TRILOGIE ("STERNGUCKER ODER ...")



Aus "Nach oben offen. Reflexe - Band 7"

184.
Peter Sloterdijk zitiert einen Kollegen weggenuschelten Namens mit dessen Definition von Kultur in nur drei Wörtern:

"Après vous, Monsieur".

Der relativ neugezähmte Feminist Sloterdijk korrigiert so schnell wie untertänigst und opportun:

"Oder après vous, Madame".

Falsch: denn einer Frau den Vortritt zu lassen, ist weniger Kultur als Konvention oder Knigge. Oder Mariënkult. (Oder alles das in Einem.)

Aber tatsächlich wäre heutzutage am Richtigsten, jedwede Apostrophe wegzulassen und sich mit nur noch zwei Wörtern zu begnügen, die Kultur chiffrieren:

"Après vous".


232.
Ob die Nazis bei großen Teilen der deutschen Bevölkerung vielleicht auch deshalb so beliebt waren, weil Töten unter ihrem Regiment nicht nur straffrei blieb, sondern sogar willkommen war?

In welchem andern System, welcher andern Staatsform konnte Bruder Wolf  je seine nachweislichen Aggressionen und Mordgelüste so ungehemmt ausleben wie bei diesen offiziëllen Hehlern und Brandstiftern?

Wer Juden, Zigeuner, Schwule oder Kommunisten totschlug, war ein Held. Das mag dem Unterbewußten vieler Volksgenossen der sprichwörtlich "innere Reichsparteitag" gewesen sein: eine Orgië, ein Fest.

Wie konnte ihnen da solcher Blancoscheck mißfallen?


260.
Zwei der monströsesten Schreckensregime der letzten hundert Jahre selbst  noch als Zeitzeuge kollabieren sehen zu dürfen, war bereits ein großes Glück.

Daß sich nach den Diktaturen der Nazis und Sowjets nun auch der infame Terror des Kapitalismus schon seit geraumer Zeit zumindest moralisch, psychisch und geistig, vermutlich auch schon politisch im schleichenden Prozesse seines unaufhaltsamen Niedergangs befand, war für den aufmerksamen Beobachter mit entsprechenden Sensoriën zwar unübersehbar. Aber diese sonderlich brutale Gewaltherrschaft schien sich ökonomisch mit den Potjomkinschen Dörfern vermeintlichen Wohlstands zunächst noch ein kleines Galgenfristchen lang erfolgreich über Wasser halten zu können.

Damit ist es aber seit nunmehr drei Monaten vorbei. Der Oktober 2008, ein historisches Datum, hat überraschend die Totenglocke dieses massenmörderischen Irrwegs zu läuten begonnen.

Was für ein Glück das ist, läßt sich zur Zeit noch gar nicht recht überblicken. Ahnungslose Flickschuster mühen sich zwar noch um Reparaturen. Aber die Agonie ist voll im Gange. Das könnte der Menschheit und ihrem paradiesischen Planeten noch in letzter Sekunde zum Überleben verhelfen.

Aber innerhalb eines halben Jahrhunderts drei so teuflische Systeme aus sich selbst heraus zusammenbrechen zu sehen, ist eine große Gnade und läßt an gute Geister glauben.

Dem Himmel sei Dank!


275.
Analog zum weiland so verrufenen "real existierenden Sozialismus" gibt es inzwischen auch eine "real existierende Demokratie".

Leider ist sie ein Synonym auch für totale Verspießerung roundabout.

Insofern auch für Terror.

 
277.
Meine mitgeschleppten Qualitätsansprüche muß ich als prinzipiëll altmodisch einsehen lernen: als undemokratisch.

Moderner Demokratie ist die Bonität von Leistungen und Produkten bestenfalls zweitrangig – wenn nicht absolut wurscht. Was für sie zählt, ist primär, wenn nicht einzig, daß möglichst viele Leute ihren Willen kriegen: sei er auch noch so dämlich oder destruktiv.

Die so herbeigeführten Insolvenzen und Zusammenbrüche allerseits nimmt sie da hin, ohne auch nur stutzig zu werden. Hauptsache, viele wollen das so. Dann ist auch jeder Kollaps willkommener als alle dienlichen Blüten oder Früchte, die aus einsamen Entschlüssen oder Minderheitsvoten resultieren.

Wohin das, über kurz oder lang, unweigerlich führen muß, kann jeder mühelos nachrechnen, der das kleine Einmaleins beherrscht.

Darum erlernen das auch immer Wenigere. Taschenrechner informieren nur über eigens Nachgefragtes oder Eingegebenes. Ohne input ist bei denen keinerlei output: wie handlich und mehrheitsfreundlich.

Umso überraschter können sich dann alle user über Lehman Brothers gerieren: wo kam das denn plötzlich her?


355.
Einerseits

erfüllt dieses aktuëlle Aufbegehren gegen Vatikan und Klerus, diese erste Volksempörung gegen tradierte Scheinheiligkeit und Machtmißbrauch der katholischen Kirche und ihrer Funktionäre

mit Genugtuung und einem geradezu historischen Bibber der Beglückung.  Denn erstmals seit vielen argen Jahrhunderten setzen sich da die unterdrückten Opfer einer omnipotent erachteten Herrschaftspolitik zur Wehr.

Was da beim flüchtigen Hinschauën wie ein Aufstand just gegen sexuëllen Mißbrauch aussieht, ist in Wahrheit die geschichtlich erste Rebellion der katholischen Gemeinde gegen eine maßlose Unterdrückung durch ihre Kirche.

Das war längst überfällig, hat historische Dimensionen und erfüllt jeden Außenstehenden mit purer Freude.

Andererseits

darf nicht übersehen werden, daß sich in dieser Revolte tief innen ein Triumph des katholischen Menschenbildes und Gesellschaftsideals verbirgt.

Denn ebenjene Sexualmoral, die hier verwundet aufschreit und sich gegen klerikale Übeltäter auflehnt, ist Resultat und Produkt einzig katholischer Prüderie und Sexualverteufelung.

Auch die scheinbar so aufgeklärten und liberalen Mediën stellen sich da unbewußt und ungebildet, aber lauthals in den Dienst des Vatikans.

Denn schon der bedenkenlos bemühte Begriff sexuëllen Mißbrauchs ist zutiefst katholisch. Er resultiert aus einer Sexualmoral, die jeden außerehelichen, extrasakramentalen Eros verurteilt. Er impliziert auch jede einvernehmliche Sexualität sei es zwischen Männern, zwischen unverheirateten Paaren, zwischen Meistern und Adepten, was auch immer. Alles das wird als Mißbrauch diskriminiert, wo man Gebrauch nicht kennen will.

Einem so pervertierten Weltbild folgt derzeit leider die ganze rebellierende Öffentlichkeit und verurteilt nach den Kriteriën Roms. Sie unterwirft sich insofern den katholisch aufgenötigten Zwängen.

Vermutlich deshalb schweigt "unser" Papst so salomonisch zu allen Bezichtigungen: noch in unsern laxen Zeiten läuft da alles, wie es soll und wie er es gutheißt.

Was er da namentlich gutheißen dürfte, ist die weltweit grassierende Ahnungslosigkeit, was Sexualität zuïnnerst ist oder sein kann.

*

Um Fehldeutungen unmißverständlich vorzubeugen:

was da in Klöstern, Internaten oder Schulen an Gewaltsamkeiten stattgefunden haben mag, ist ebenso radikal und vorbehaltlos zu verwerfen, zu bekämpfen und strikt zu verurteilen wie auch jede andere Gewalttat, die auf diesem Planeten nicht nur Kindern und Jugendlichen oder Frauën, auch Männern, auch Tieren und Pflanzen, die je dem Wunder des Lebens zugemutet wird.

Doch auch Vergewaltigungen durch Mehrheitsmeinungen sind zutiefst verwerflich.


396.
Das ganze Volk fiebert einem Fußballspiel gegen Ghana entgegen.

Ich bete für einen Sieg der Ghanaër. Sie brauchen ihn dringender.

Ein Sieg der Deutschen würde hier chauvinistische Deliriën auslösen, die einen Menschen meines Jahrgangs allzu sehr an jene Ekstasen erinnern, wie sie seinerzeit von siegestrunkenen Sondermeldungen im Zweiten Weltkrieg hierzulande entfesselt wurden. Die Begeisterungssymptome gleichen sich zum Verwechseln. Nur die Fahnen wurden inzwischen ausgetauscht.

Der maßlose Jubel für einen Fußball unterscheidet sich durch nichts von dem für Adolf Hitler.


436.
Wie jener Einsturz der World Trade Towers am 11. September 2001 mit dem späteren von Lehman Brothers, Hypo Real Estate Holding und anderen Finanzmarodeuren innerlich zusammenhängen dürfte.

Wie in einem Kartenhause ein einzelner Strauchler alle andern nach sich zieht.

Oder wie Dominosteine reihenweise kippen.

Alles gleichermaßen unaufhaltsam.

Ganze Prinzipiën und Systeme kollabieren da jeweils.

Wie beim Großreinemachen, einem Frühjahrsputz: Inventur!

Remonte. Check up.

Illustration : Pagode

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