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AUTOR VON "HAHNENSCHREIE", "LIEBESBRIEF AN FREMDEN KÖNIG" UND SCHILLER-TRILOGIE ("STERNGUCKER ODER ...")



Aus "Nach oben offen. Reflexe - Band 2"

Es gibt kaum etwas Traurigeres, als Paare zu beobachten und sich die verhängnisvollen Zufälle ihrer Verbindung vorzustellen.

So, und das haben sie nun davon – lebenslänglich.

Meist ahnen sie nichts von besseren Alternativen und kümmern lustlos vor sich hin.

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Sólon: "Niemand ist vor seinem Tode glücklich zu preisen."

Kein lebensfeindlicher, ein optimistischer Satz.

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Militanter Feminismus ist heute eine andere Art von Machismus, indem er zumindest ebenso chauvinistisch ist.

Der männliche Chauvinismus ist nur weitgehend unbewußt. Das entschuldigt ihn nicht, entlastet ihn aber von der ideologischen Vorsätzlichkeit seiner femininen Spielart.

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Eigentlich findet zur Zeit die radikalste Anpassung und Unterwerfung statt, der die Frauën in der gesamten Humangeschichte jemals ausgesetzt waren: indem sie nämlich, vermutlich in der Tat erstmalig, männliche Kriteriën, Koordinatensysteme und Leistungen für sich in Anspruch nehmen und usurpieren.

Früher haben sie Gegenwelten realisiert und in ihnen gelebt, die männliche Welt den Männern überlassen. Jetzt okkupieren sie deren Kosmos und verzichten auf jeden eigenen.

Gibt es eine größere Hommage? Eine rigorosere Unterordnung?

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Altern ist ein zunehmendes Abstoßen des Körpers. Er gehört einem immer weniger, entfremdet sich immer mehr, geht immer mehr seiner Wege. Man mag ihn auch immer weniger, will ihn lieber gar nicht mehr sehen, kann sich damit kaum noch identifizieren. Schließlich kommt er dann endgültig abhanden.

Dabei hat er jahrzehntelang so mustergültig und selbstlos gedient und ohne großes Aufsehen für reibungslose Abläufe und alle erforderlichen Instandsetzungen gesorgt.

Altern: der Körper beginnt, sich zu entfernen. Oder entfernt man sich vom Körper? Nein, "man selbst" ist stabil, unverändert (es sei denn erweitert, angereichert, vergrößert); aber der Körper verändert sich, entzieht sich. Erblickt man ihn unverhofft (auf Fotos, in Spiegelungen), erschrickt man über seine Unangemessenheit, die mangelnde Entsprechung, die reduzierte Zusammengehörigkeit. Das ist: der Körper beginnt, einen zu entwöhnen, die Trennung leicht, eines Tages wahrscheinlich wünschenswert zu machen.

Auch beginnt man, Daseinsformen zu ahnen, die ihn gar nicht brauchen.

Entsprechend reduzieren sich die Unabdingbarkeiten der Sexualität. Auch sie wird unwichtiger.

Noch nicht sind Daseinsformen denkbar, in denen nicht mehr formuliert wird.

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Sogar der fast verbotlose Buddhismus untersagt das Töten. Unschwer ist daraus abzuleiten, daß selbst hier wie allerorten das Umbringen eigens mit Verdikten belegt werden muß.

So eingeboren, so gewünscht, so schwer vermeidbar, so natürlich ist das Töten eigentlich. Denn verboten werden muß ja nur, was sonst viel und gern begangen wird. Natürlich ist das Töten. Nicht zu töten, ist unnatürlich. Ist das schon Kultur?

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Die instinkthaft eingeborene Tendenz, irritierende Kleinstlebewesen, auch wenn sie völlig harmlos sind, zu töten oder lebensbedrohlich zu behelligen, mag die äußerlich ausläuferhafte Fortsetzung des inneren Immunsystems sein, das ja jeden unerwünschten Eindringling beseitigt.

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Die Geschichte des kleinen Thai-Kindes nicht vergessen, das schmerzhaft hinfiel und in der Sekunde seines Tränenausbruchs weder bemitleidet noch beschimpft, sondern von der umstehenden Familië so herzhaft belacht wurde, daß es Schmerz und Schrecken vergaß und auch selbst nur noch lachte.

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Warum wohl niemand den seit sechs Jahren grassierenden Gemeinplatz widerlegt, der Zusammenbruch von Sowjetunion und DDR (samt Komplizen) sei die endgültige Bankrotterklärung von Kommunismus, gar Sozialismus gewesen.

Zunächst müßte definiert werden, daß eine Idee, die nichts anderes wolle als irdische Gerechtigkeit, nie und nimmer Bankrott erklären könne: durch das Debakel irgendwelcher Regierungen schon gar nicht.

Also gelte es, den Sozialismus für unsterblich zu erklären, so lange keine totale und permanente Gerechtigkeit auf diesem Planeten herrscht.

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Die bislang mangelnde Fortune dieser simplen Idee einer irdischen Gerechtigkeit beweist keineswegs ihr falsches Konzept.

Eher die Überforderung der Gattung Mensch mit so hohem Anspruch und die Unlust der jeweils Mächtigen auf diesem Planeten zu jeglicher Umsetzung von Gerechtigkeit.

In Rußland, Polen, DDR undsoweiter ist nicht die Idee der Gerechtigkeit gescheitert. Dort ist sie nur in die Hände skrupelloser Machthaber geraten, die alles eher wollten als Gerechtigkeit.

Was dort versucht wurde und gescheitert ist, war gerade nicht ein Sozialismus, sondern genau dessen Korruption.

Tatsache ist, daß Sozialismus auf diesem Planeten realpolitisch noch nie existiert hat – (es sei denn in prähistorischen Frühformen mancher Naturvölker).

Also kann jetzt auch nicht das Scheitern des Sozialismus verhöhnt und hämisch gefeiërt werden.

Ebenso falsch wäre es, die Idee der Demokratie nur an den Fehlern zum Beispiel unserer Weimarer Experimentier- und Erstlingsphase zu messen und das resultative Auftauchen einer Hitler-Figur für ergo typisch demokratisch, die Idee an sich für gescheitert zu erklären (wie Hitler das tat).

Auch die Idee der Monarchie müßte an den Konzepten des Novalis oder am Periklẽs, an Al Mamûn, an Hussein von Jordanien, Puhmiponn von Thailand oder Juan Carlos von Spanien, auf keinen Fall aber an Nero oder Kaiser Wilhelm II. gemessen und beurteilt werden.

Gar das Christentum wäre sonst, wenn man es an der Geschichte seiner Debakel mißt, längst schlüssig für gescheitert zu erklären.

Kurz: hochfliegende, wohlmeinende Konzepte brauchen sehr viel Zeit und sehr viele Anläufe.

Das der Gerechtigkeit sicher ganz besonders.

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Immerhin hat der östliche Sozialismus selbst in seiner also scheinbar gescheiterten Form eine Gestalt wie Gorbatschow hervorgebracht und reüssieren lassen, sich also aus eigener Kraft zu reformieren begonnen.

Eben das vermag sein antisozialistisches Gegenkonzept nicht einmal in sei es noch so mikroskopischen Ansätzen.

Es ahnt nicht einmal etwas von seiner Reformbedürftigkeit und feiërt seine Korruption in blindwütiger Selbstgerechtigkeit und fataler Ahnungslosigkeit.

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Der wahllosen Gleichmacherei in unseren mißverstandenen Demokratiën fehlt es an Oriëntierungen, an Vorbildern, an Mustern. Jeder Gauch, jeder Schnösel, jedes Monstrum, jeder Idiot kann sich hier Geschmacksbildung anmaßen.

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Sucht und Neurose der Raucher besteht nicht aus dem Rauchen, sondern aus dem Anzünden von Zigaretten. Den Rest verglotzen sie, während der Rauch sich unbeansprucht in die nächstliegenden Bronchiën verkräuselt.

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Lernen, den Tod nicht als Kapitulation, nicht einmal als Schwäche, als Unterliegen, als Verschleiß zu begreifen, sondern als Fortschritt. Gar als Leistung?

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Großer Reiz, den Morgen im vielgestirnten Grand Hotel, den Abend desselben Tages an den Ursprüngen von Gesellschaft und Kultur zu verbringen, Ratten essend.

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In der Mäusenacht gelang mir zunächst eine einverständliche Einordnung meiner Person in die Fauna ringsum, in den Bios. Die Zugehörigkeit zu ihm ist beruhigend, schlafförderlich wie jener vielzitierte abrahamitische Schoß.

Ähnlich geht es schließlich im humanen Bereich mit Baos finanziëllen Überfällen. Was Belästigung scheint, erweist sich als familiärer Einbezug in menschliches Sorgenfeld, menschliche Problematik. So wird das Parasitäre, Dronenhafte der touristischen Existenz relativiert.

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Wie schwer es ist, finanziëll oriëntierte Unterstellungen beiseite zu schieben.

Verfolge ich selbst denn keine eigenen Interessen, keinerlei eigenen Profit beim Einlassen auf solche Begegnungen? Und wird hier nicht sehr viel mehr zurückgegeben, ausgedacht, geschenkt als zum Beispiel von Martin und anderen? Was ist an einem Austausch von Nützlichkeit falsch? Derlei anzukreiden, heißt, nur haben, nicht geben zu wollen: eine Anmaßung.

Umlernen.

Das erwähnte Prinzip der Gemeinsamkeit, einer nicht nur nominellen Brüderlichkeit praktizieren, die im selben Felde lebt.

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Sie helfen immer. Doch sie helfen gar nicht. Denn sie helfen nicht einem andern, sondern sich selbst. Aber sich selbst hilft man ja gar nicht. Diese Hilfe ist also keine Hilfe, sondern Gemeinsamkeit: im selben Felde leben.

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Sie sind Lebenskünstler. Nichts fällt ihnen schwer, weil sie alles leicht nehmen. So stellt sich ihnen nichts als kompliziert dar, weil sie dem mit einer gangbaren Lösung zuvorkommen. Sie stauen kein Problem, weil sie es erst im Augenblick seiner Bewältigung angehen, die improvisiert wird und immer gelingt.

So trauën sie menschlicher Begabung und Fähigkeit zurecht viel mehr als unsereiner und fahren damit besser.

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Sie scheuën keine Anstrengung, weil sie sich dabei gar nicht anstrengen.

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Als auf der Abschiedsfête die Musik einmal pausiert, kommt es zu einem längeren Gespräch zwischen allen Anwesenden.

Da ich nichts verstehe, habe ich umso bessere Gelegenheit, mich ganz auf ihre Gesichter, ihre Stimmen, ihren Tonfall, die Atmosphäre zu konzentrieren. Ich beobachte, wie in diesem mindestens halbstündigen Gespräch jeder in Ruhe seine Meinung vorträgt, die angehört und respektiert wird. Niemand versucht zu dominieren, sich durchzusetzen oder zu behaupten, keiner will sich profilieren oder in Szene setzen, keiner will Recht behalten, keiner ereifert sich, keiner erhebt je die Stimme. Dabei sind sie durchaus lebhaft.

Diese hohe Gesprächskultur (bei jungen bäuerlich-proletarischen Hinterwäldlern!) ist gleichwohl weniger eine Leistung als bereits angeboren. Schon weil persönliche Eitelkeit sich hier in hübscher Kleidung zu erschöpfen, nie den Rivalen oder Kontrahenten unterdrücken, besiegen zu wollen scheint.

Also nicht Kultur, sondern Natur? Aber wie kommt hier solche Kultur in die Natur? Ei oder Huhn?

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Der allgemeine Charmeverlust, aus Bangkok und Puhgett schon allzu bekannt, grassiert nun auch hier. Selbst jenes penetrante, oft allzu lästige, aber kontaktfreudige "Where you go? – bai nai" ist verstummt. Auch die Blicke fehlen, die Neugier, das Lächeln. Der Würgegriff sogenannter Marktwirtschaft hält sie nun auch hier gepackt. Der Mitmensch ist zur Beute geworden, die nur noch verachtet wird.

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Sich vorzustellen, daß es den Tod nicht gäbe: alles, was einmal da ist, bliebe für immer.

Die Welt wäre ohne ihre Grundspannung.

Sie wäre langweilig.

Sie wäre bewegungslos: sie wäre tot.

Nicht tot ist sie nur durch den Tod.

Sie lebt nur durch den Tod.

Ohne Tod hätte sie kein Leben.

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Einer todlos toten Welt könnte man nur wünschen, daß sie zu Zeugung, Fortpflanzung oder sonstiger Produktivität nicht imstande wäre, denn ohne natürlichen Abgang wäre alles bald heillos überfüllt und übervölkert. Man könnte auch niemanden ermorden, nichts vernichten. Alles bliebe und wüchse nur karzinös.

Aber ohne jegliche Kreativität wäre der einmal gegebene Bestand auf ewig statisch, veränderungslos, ohne Wachstum: tot.

Ewiges Leben wäre also ewiger Tod.

Durch punktuëllen Tod herrscht ewig Leben.

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Der Körper kann diese Motorradkontakte vor und hinter sich kaum vergessen: zumal mit dem rehhaft unschuldigen Pett und dem knackig-dicklichen, hünenhaften Trainingssportler und all der transpirierenden nackten Haut ihrer glatten Zwanzigjährigkeiten.

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Die Kupplung der Schmetterlinge hat so viele Gänge wie kein Auto und kein mountain bike. Einzig einen Rückwärtsgang scheinen sie nicht zu haben – oder bloß nicht zu benutzen. Warum auch zurück?

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Das schockartige Erschrecken der Öffentlichkeit über die diversen Krisen und Zusammenbrüche großer Wirtschaftsunternehmen bemüht jetzt plötzlich gern die Unfähigkeit der bislang so hochgeschätzten Manager. Eine Stromliniëntante wie diese Gertrud Höhler führt jählings im Fernsehen gar deren Inkompetenz angesichts irrationaler Dimensionen ins Feld.

Niemand scheint auf den naheliegenden Gedanken zu kommen, daß es sich bei besagten Debakeln und ihrer Häufung um die allmählich zutage tretenden Resultate langjähriger Mehrheitsbeschlüsse in all den Gremiën, Ausschüssen, Vorständen handeln könnte. Ein Dummheitsbeschluß nach dem andern hat da alles ausgehöhlt.

Da können die Einstürze nur noch eine Frage der Zeit sein.

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Die eigene Unfähigkeit zur Trauër selbst wenn die Nächsten sterben, in pessimistisch selbstkritischen Momenten als Gefühlskälte und Oberflächlichkeit, in selbstgefälligeren als Vernunft und Realismus gedeutet, wird mir heute mittag in Bangkok schlagartig als Innere Stimme der Wahrheit verständlich.

Sie läßt mich wissen, daß es da nichts zu trauërn gibt, weil es halt, abermals, den Tod im angedrohten, im einschüchternden Sinne der christlich-europäïschen Konvention durchaus nicht gibt. Warum also trauërn?

Meine Seele, die mehr weiß als mein Bewußtsein, ist sich dessen problemlos gewiß und trauërt also nicht. Sie verliert ja niemanden.

Denn Sehen und Hören sind nicht das A und O. Anfassen auch nicht.

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Unser Aufenthalt im Körper gleicht einer Einquartierung.

Oder einer (strafenden?) Ausquartierung. Einer Strafversetzung?

Oder einem gnädigen Asyl?

Oder einem Experiment?

Illustration : Pagode

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