This site will look much better in a browser that supports web standards, but it is accessible to any browser or Internet device.



AUTOR VON "HAHNENSCHREIE", "LIEBESBRIEF AN FREMDEN KÖNIG" UND SCHILLER-TRILOGIE ("STERNGUCKER ODER ...")



Aus "Nach oben offen. Reflexe - Band 3"

31.

Was dieser Planet jetzt braucht, ist eine Pause.

Er braucht Urlaub, eine Siesta, Ruhe und Erholung: er braucht Muße.

Die Fetische Fortschritt, Wachstum, Entwicklung, Gewinn müßten einer Phase das Feld räumen, in der Besinnung und Entspannung an ihrer aller Stelle treten: Meditation.

Wenn dem Planeten Meditation verordnet würde, könnte er sich vielleicht noch einmal regenieren.

Er ist ferienreif.

Seine Bewohner sind es mit ihm.

53.

Was für einen Horror allein das Wort "Flußbegradigung" auslöst: es ist gewalttätig, böse, pervers, erschreckend dumm.

Das wird nach den süddeutschen Überschwemmungskatastrophen vor Jahr und Tag nunmehr durch das nordspanische Desaster auf dem Campingplatz von Las Nieves abermals deutlich.

Die Folge einer Flußbegradigung kann nur die Katastrophe sein. Denn das Ungerade kann nicht begradigt werden. Als mache man das Rechte zum Linken. Das Helle zum Dunklen.

57.

Im Jiddischen offenbart sich plötzlich all die Poësie, zu der die deutsche Sprache mit ihrer Armut an Klang und Melodie, an Transparenz und Musik sonst nicht fähig zu sein scheint. Ausgerechnet im Jiddischen, das sie verachtet, verboten, bestraft, vernichtet und vergessen hat, besitzt sie sie.

Ihr negatives Verhältnis zum Jiddischen ist also eigentlich das zum Poëtischen.

Das Volk der Dichter (und Denker)?

Das Volk der Juden- und Bücherverbrenner.

74.

Der Mensch hat die Tiere von je her verachtet und Bestien genannt. Auch die großen Religionen (außer der buddhistischen) haben das getan. Auch die großen Kulturen, die großen Philosophien.

Wie sehr aber müßte eine Möwe die Menschen verachten, wenn sie deren Flugzeuge starten sieht.

Es hat den Anschein, daß sie das nicht tut.

Insofern wäre die Kultur der Möwe höher entwickelt.

87.

In Manila wird heute ein südphilippinischer Krieg beendet, der in 25 Jahren 120 000 Tote gefordert hat und von dem ich heute zum ersten Mal erfahre.

Da bin ich gewiß nicht der einzige.

Wieviele ähnliche Kriege gibt es derzeit wohl noch, über die kein Medium je berichtet?

Und warum tun sie es nicht?

96.

Auf der Post steht eine Asoziale geduldig in der Schlange, um endlich am Schalter lediglich nach dem heutigen Datum zu fragen.

194.

Es mag beim Idealismus und seinen diversen Spielarten nicht eigentlich darum gehen, ob er denn beileibe irgendeiner objektiven Wahrheit entspricht. Die wird sich in alle Ewigkeit mathematisch nicht beweisen lassen.

Es geht vielmehr um all jene Euphoriën, Hoffnungen, Wollüste, Sehnsüchte, Ekstasen, Begeisterungen, Lebensziele und Wohlgefühle, die wir den Idealismen verdanken und ohne sie nicht besäßen. Insofern verschönern und erleichtern sie unser hiesiges Dasein auf ganz unverzichtbare, ganz unike Weise, und insofern sind sie also das Allerwertvollste, Allerpflegenswerteste, Allergöttlichste – "objektive Wahrheit" hin oder her.

Sie vermitteln uns Annehmlichkeiten des Geistes und der Seele, die uns alle materielle Wunscherfüllung deutlich schuldig bleibt.

Und damit basta.

201.

Im Fernsehen ist zu lernen, wie in Benin auch heute noch das ganze, auch politische Leben vom Wodú beherrscht wird.

Was das eigentlich ist, bleibt gleichwohl unklar.

Aber ein Magier ist zu sehen, wie er ein Huhn nur dadurch tötet, daß er es im Schoße hält und ruhig, aber intensiv auf es einredet.

203.

Altersbeschwerden könnten den Sinn haben, Sterben als Gnade verstehen zu lehren.

205.

Idealismus regt an; Materialismus lähmt.

Schon das besagt viel.

Oder alles.

259.

Schon 1949, nur vier Jahre nach Hitlers Ende, saßen im ersten freigewählten deutschen Parlament namens Bundestag bereits fünf Abgeordnete einer rechtsextremen Partei, der DKP-DRP ( = Deutschen Konservativen Partei- Deutschen Reichspartei).

Der Neo-Nazismus also kein Phänomen nur der DDR, keins erst der neunziger Jahre.

307.

Manchmal hat man Glück. Man zappt alle zwanzig oder dreißig Fernsehkanäle durch, und überall ist Werbung.

Wirklich: manchmal hat man Glück.

308.

Heute brauche ich bei einer älteren Bibliothekarin der Anna-Amalia-Bibliothek nur eine kleine harmlose Frage zu stellen, und sie explodiert: über den zusammenbruchartigen Rückgang der Allgemeinbildung seit der historischen deutschen Wiedervereinigung. Auch das Niveau der Gymnasien, der Universitäten: alles sei ziemlich ruckartig in den Keller gestürzt.

Sie kann gar kein Ende finden: so aufgewühlt ist sie über die Bildungspolitik der Freien Marktwirtschaft.

414.

Von jenen Illuminaten wie von Freimaurern und anderen Geheimbünden führt ein direkter Weg zur RotenArmeeFraktion und zu sonstigen Radikalen von heutzutage.

Sie alle sind Weltverbesserer mit riesigen Utopien, die sie durch den Terror interner Hierarchien selbst sabotieren.

Schon daran scheitern sie alle.

456.

Bei einem Autorennen sind die Gebrüder Schumacher kollidiert.

Anderntags macht die BILD-Zeitung mit einem Zitat des Jüngeren als Schlagzeile auf: "Ich bremse nicht für Michael". Ihren Kommentar dieses Falles übertitelt die Gazette: "Das war Bruder-Mord".

Kain und Abel sind unter uns.

560.

Wenn in den USA, also nicht irgendwo in der sogenannt Dritten Welt, sondern mitten im Hauptquartier des Kapitalismus, dreizehn Millionen Kinder unterernährt sind und Tag für Tag nicht satt zu essen haben, kann dieses selbstgefällig vielgepriesene System nicht in Ordnung, sondern nur völlig mißlungen sein.

Denn für sowas gibt es keinerlei Rechtfertigung.

Schmeißt dieses System endlich weg!

Macht was Besseres! Aber schnell!

590.

In Buchenwald, höre ich, gab es seinerzeit keine Vögel.

Nicht einen einzigen.

Der Geruch, den das Krematorium verströmte, hatte sie vertrieben.

600.

Unter einer altägyptischen Bildsäule der Isis, lese ich in Schillers "Sendung Moses", ließ sich entziffern oder dechiffrieren:

"Ich bin, was da ist."

Schiller führt das als Vorschlag oder Möglichkeit dafür an, das Unbenennbare zu kennzeichnen, ohne sich einer Floskel wie "Gott" zu bedienen.

826.

An einer Hauswand des Eppendorfer Abendrothsweges ist seit eh und je ein antikapitalistischer Grafitto zu lesen, der nicht entfernt wird, also wohl gar hier noch jedermanns Zuspruch erfährt:

"Yuppies, eure Angst ist berechtigt!"

858.

Jeder Ort, den man auf diesem Planeten einmal besucht hat, löst hinfort Sehnsucht aus: Heimweh.

Jeder.

Je mehr man also gereist ist, desto mehr zerreißt es einen.

Und weil man dann überall wieder hin will, ist man nirgends mehr zu Hause.

Aber auch das hat sein Gutes: Befreiendes, Entfesselndes.

Illustration : Pagode

Copyright-Hinweis: Die Inhalte dieser Seite sind urheberrechtlich geschützt. Eine private oder kommerzielle Verwendung dieser Inhalte (Bilder, Texte) erfordert eine ausdrückliche Genehmigung durch Moritz Pirol.