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AUTOR VON "HAHNENSCHREIE", "LIEBESBRIEF AN FREMDEN KÖNIG" UND SCHILLER-TRILOGIE ("STERNGUCKER ODER ...")



Aus "Halalí"  (Erster Band)

Auszug aus dem Kapitel CAROLA NEHER

... Ein schon zugesagtes Gastspiel als Wedekinds "Lulu" in Paris sagte diese Primadonna einfach ab, um mit dem siechen Klabund einen Sommerurlaub auf der istrischen, damals noch italiënischen Insel Brioni zu verbringen.

Hiernach sollte sie im Berliner Theater am Schiffbauerdamm mit den Proben zu einer privaten Produktion des wohlhabenden Impresarios Ernst Josef Aufricht beginnen: "Die Dreigroschenoper" von Kurt Weill und jenem Bertolt Brecht, einem andern wiedergefundenen Verehrer aus Münchner Tagen also. Unter der Regie seines damaligen Valentin-Stummfilm-Coregisseurs Erich Engel war sie hier mit der weiblichen Hauptrolle besetzt: der Polly, Mackie Messers Braut. "Sie war die Idealbesetzung für die Rolle", hat Produzent Ernst Josef Aufricht noch 1966 beharrlich betont:

"eine Sumpfblüte unter dem Mond von Soho. Das flächige, regelmäßige Gesicht mit der Katzennase konnte ebenso lustig wie traurig sein. Sie war neben Lotte Lenya die beste Interpretin Brechtscher Texte und Songs von Weill. Sie hatte die große Schnuppigkeit über dem Klirren eines zerbrochenen Herzens."

Portrait: Carola Neher

Carola Neher (Foto: Jacoby, 1932)

Am 1. August begannen die Proben zur Premiere am 31. August 1928. "Nur die Neher fehlte. [ ... ] Wir schrieben, wir telegrafierten und blieben ohne Antwort. Als ich sie endlich telefonisch erreichte, sagte sie mit leiser Stimme, daß Klabund in der Agonie liege, ich sollte aber die Rolle nicht umbesetzen".

Am 14. August 1928 starb Klabund unter großen Qualen an zusätzlicher Lungen-, Bauchfell- und Hirnhautentzündung: im Alter von 37 Jahren.

Über die Rückkehr Carola Nehers von diesem Schmerzens- und Sterbelager nach Berlin und in die Proben zu ihrer Polly gibt es drei sehr widersprüchliche Berichte.

Der eine stammt von

Ernst Josef Aufricht (1898-1971),

den die Nazis schon bald zur Emigration nach Paris und Amerika nötigten, wo er aber seinen Welterfolg mit der "Dreigroschenoper" ebensowenig wiederholen konnte wie später in Adenauers Bundesrepublik mit deren Unlust an Remigranten. Seine nachweislich großen Talente blieben da chancenlos.

Aber in seinen ebenso amüsanten wie erschütternden Memoiren schildert er die Episode mit der jungen Witwe Carola Neher so:

"In ihrem schwarzen, hochgeschlossenen Kleid mit langen Ärmeln sprach sie die ersten Sätze, und ich sah und hörte, wie sie sich mit der Rolle deckte. Wir probierten einige Zeit, und das Stück sollte zum ersten Mal durchlaufen. Es war eine Abendprobe, wir wollten nicht unterbrechen und nicht eingreifen [ ... ] , bis plötzlich die Neher erklärte, sie spiele nicht, die Rolle wäre zu klein. Brecht mischte sich sofort ein:

'Ich bringe das in Ordnung, bitte, den Vorhang herunter!' Er ließ auf die Bühne einen kleinen Tisch tragen, die Neher saß neben ihm, und er begann zu schreiben.[ ... ] . Als ich beiden vorschlug, ihre Arbeit in meinem Büro fortzusetzen, stand sie auf, schmiß mir das Manuskript vor die Füße: 'Spielen Sie das Zeug allein!' und verließ das Theater. Es war eine Woche vor der Premiere [ ... ] .

'Nehmen Sie einen Strauß Rosen, das Brautkleid der Polly und den Erich Engel und versuchen Sie, die Neher umzustimmen', sagte Brecht [ ... ] . Mit dem Blumenstrauß und einem Karton mit dem Kleid fuhren wir hin. [ ... ] Wir wurden in ein kleines Eßzimmer einer bescheiden möblierten Wohnung geführt und zu warten aufgefordert. Es war ein sehr heißer Augusttag, und wir warteten. Wir warteten eine halbe Stunde, öffneten die Tür zum Korridor, riefen mehrmals: 'Fräulein' und 'Hallo', niemand reagierte. Wir warteten weiter. Nach wieder einer halben Stunde kam das Mädchen und meldete:

'Die gnädige Frau empfängt heute nicht.' [ ... ]

Jetzt mußten wir umbesetzen."

Auch Peter Lorre nämlich gab seine Rolle des Peachum zurück und wurde durch den kaum bekannten Erich Ponto aus Dresden ersetzt. Aber für die Neher sprang deren Freundin und Kollegin Roma Bahn ein: "in vier Tagen lernte sie die ungewöhnliche Musik, den schwierigen Text und war in der Premiere fehlerlos".

Ganz anders liest sich dieser ganze Vorgang in den Memoiren des Filmregisseurs und -autors

Géza von Cziffra (1900-1989),

jenes ungarischen Tycoons zumal deutscher Unterhaltungsfilme vor, in und nach der Hitlerzeit, der noch Anfang 1945, als er im NS-groß-deutschen Prag mit Rudolf Prack, Carola Höhn und dem jungen O. W. Fischer "Leuchtende Schatten" drehte, von den Nazis verhaftet wurde, nachdem er seinen kriminalpolizeilichen Berater, den SS-Sturmbannführer Heinrich Eweler, einen Angehörigen des Reichssicherheitsdienstes und Bruder der Filmschauspielerin Ruth Eweler, wegen kritischer Einmischungen in die Dreharbeiten des Ateliers verwiesen hatte; im Palais Pecec, Hauptquartier der Prager Gestapo, wurde Cziffra scheinheilig beschuldigt, mehrfach ohne Lebensmittelmarken in einem tschechischen Restaurant gegessen zu haben, hierfür zu einer sechsmonatigen Haft verurteilt und ins Prager Untersuchungsgefängnis Pankrac eingeliefert, von wo er ins Konzentrationslager Theresienstadt überführt werden sollte: lediglich eine Manipulation der Unterlagen, dann das Nahen der Roten Armee bewahrten ihn vor diesem Schicksal.

Dieser Cziffra also war 28 Jahre alt und noch ein suchender Journalist in Berlin, als die "Dreigroschenoper" dort gestartet wurde. Brecht kannte er zufällig ebenso wie auch "die hübsche, sehr begehrte und sehr beliebte" Carola Neher, deren Probenbeginn als junge Witwe er so beschrieben hat:

"Als sie in Berlin ankam, war sie ein verzweifeltes, verweintes Nervenbündel. Nach einigen Probentagen schmiß sie die Rolle hin. Begründung: die Rolle wäre zu klein. – Eines Nachmittags, als ich sie in ihrer Wohnung, die sie in diesen Tagen kaum verließ, besuchte, gestand sie mir den wahren Grund. Sie konnte Brechts Songs, die er zum größten Teil von François Villon abgeschrieben hatte, einfach nicht hören. François Villon war Klabunds Lieblingsdichter [ ... ] .Sie, Carola, mußte noch dem Sterbenden immer wieder Villons Gedichte in der Klabund'schen Übersetzung vorlesen. Oft hatte er auch davon gesprochen, ein Stück über François Villon schreiben zu wollen. Es sollte ein Drama mit Einlagen von Villons Gedichten werden, vielleicht mit Musik. Meine Frage, ob Klabund Brecht von diesem Plan erzählte, konnte oder wollte Carola nicht beantworten ...

Wir wissen, daß Brecht mit dem geistigen Eigentum anderer sehr freizügig umgesprungen ist. Er selbst schrieb einmal in einer Erwiderung auf Alfred Kerrs Plagiatsvorwurf unter anderem:

' ... das erkläre ich mit meiner grundsätzlichen Laxheit in Fragen geistigen Eigentums'. [ ... ]

Carola zeigte mir das Gedicht, das Klabund einen Tag vor seinem Tode hatte hören wollen. Als ich sie darum ersuchte, las sie es mir vor, mit tränenerstickter Stimme."

Wirklich ist noch heute nachzuprüfen, daß im Besetzungszettel des Programmhefts zur Uraufführung der "Dreigroschenoper" nur vermerkt steht: "Eingelegte Balladen von François Villon und Rudyard Kipling". Ihr Übersetzer K. L. Ammer (für Karl-Anton Klammer, 1879-1959, aus Wien), den auch Klabund zu zitieren pflegte, wurde dort ebenso verschwiegen wie noch in der ersten Buchausgabe.

Noch 1968 bestätigte die Literarhistorikerin Marianne Kesting dem Brecht wie dem Klabund "beider Vorliebe für den Vaganten und Dichter François Villon":

"Der Vagabund hatte [ ... ] beider Interesse als gesellschaftlicher Outcast, der gegenüber der sozialen Reglementierung seine Indiviualität in einem anarchischen Lebensgefühl bewahrt".

Das mochte für die trauërnde junge Witwe damals eine schmerzhafte Kollision ergeben und war denn also die zweite Version ihres Ausstiegs aus der "Dreigroschenoper".

Aber die dritte Version all dessen stammt aus der Feder Guido von Kaullas. Er war damals 21 Jahre alt und in Leipzig just mit seiner Dissertation über Klabunds Lyrik befaßt. Ohne ihn vorher gekannt zu haben, bat die verwitwete Carola diesen jungen Interessenten oder Experten, den literarischen Nachlaß ihres Mannes zu sichern und zu sichten, zu ordnen und abzuschreiben.

"Er besaß Carola Nehers Vertrauen", hat der spätere Schauspieler und höchst produktive Autor von Märchenspielen im zweiten seiner beiden Klabund-Bücher über sich selbst berichtet, "Vertrauen nicht nur für seine Klabund-Arbeit, sondern auch in seine menschliche Vertrauenswürdigkeit für ihre damals ihm mitgeteilten Beweggründe gegen den schlecht erzogenen Aufricht und gegen Brecht. Die beiden jungen Unternehmer wollten sie ihre (Carolas) Abhängigkeit spüren lassen. Sie hatten den persönlichsten Bereich in ihr nicht respektiert, den sie auch von dieser Männerart respektiert sehen wollte [ ... ] . In rüder Weise, sachlich völlig unnötig, aus machtgieriger Wichtigtuerei hatten sie unentwegt in Davos angerufen, - Brecht immer mit den Worten: 'Ist er schon tot? Ist er schon tot???'
[ ... ] Wer Carola Neher kannte, weiß, daß auch diese siebenundzwanzigjährige Frau – nicht unberührt durch das Sterben Klabunds in ihrer Gegenwart – bei dem heftigen Schock auf die ihr gegenüber gezeigte Geringschätzung zurückschlagen mußte. Sie ist Schauspielerin genug, um zu wissen, wie man das gegenüber diesen Männern am wirksamsten in Szene setzt. Die Zeit, in der sie für Theaterleute 'so eine nette kleine Hur' ' war, ist jetzt vorbei; sie hat sich gegen erniedrigendes Benehmen durchgesetzt und Rache genommen. Ihr gegenüber verhalten sich Aufricht und Brecht in Zukunft denn auch wesentlich anders."

Keine dieser drei Überlieferungen dürfte ausschließlich falsch sein. Sie schließen sich nicht einmal völlig aus.

Carola Neher selbst jedoch hat der Freundin in Davos noch eine vierte Lesart übermittelt: zweimal sei sie auf diesen Proben in Ohnmacht gefallen, jede Weiterarbeit wurde ihr wegen totalen Nervenzusammenbruchs ärztlich untersagt. Sogar eine zugesagte Lesung von Klabund-Gedichten in einer Rundfunksendung zu Ehren des Verstorbenen sagte sie deshalb ab.

Aber als Emigrantin in Moskau hat sie etwa sieben Jahre später dem jüdisch polnisch-österreichischen Physiker Alexander Weißberg erzählt: als es mit Klabund "zu Ende ging, ließ er sie kommen. Er nahm ihr das Versprechen ab, keine Trauerkleider zu tragen und sofort wieder aufzutreten. 'Die Vorstellung, daß du strahlend jung und schön und begabt auf der Bühne stehst, macht mich glücklich, Carola. Du darfst das für keinen Tag unterbrechen, auch wenn ich nicht mehr da bin' ". [ ... ]

Nach der sensationell erfolgreichen Premiere der "Dreigroschenoper" freilich, diesem Signal, Symptom oder gar Symbol jener ganzen Ära, will ihr Produzent Ernst Josef Aufricht von ebendieser hochprominenten Carola Neher trotz aller vorausgegangenen Mißhelligkeiten prompt beglückwünscht und ebenso prompt gefragt worden sein:

"Wie lange hat die andere Vertrag? Ich muß die Polly spielen!"

Bei der späteren Rückführung dieses zwischenzeitlich ausgesiedelten Welterfolges wieder in Aufrichts genuïn gemietetes Theater am Schiffbauerdamm war dann in einer Neufassung ab Mai 1929 wirklich Carola Neher endlich die Polly.

Die Resonanz war euphorisch. ...

 

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