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AUTOR VON "HAHNENSCHREIE", "LIEBESBRIEF AN FREMDEN KÖNIG" UND SCHILLER-TRILOGIE ("STERNGUCKER ODER ...")



Aus

STERNGUCKER ODER DAS IDYLL EINES OBDACHLOSEN
Band 1: Purpurflügel

Lug und Trug

Serie des Wochenmagazins "Spektrum" mit der zweiten Fortsetzung eines Offenen Briefs des Tübinger Privatdozenten Dr. Sigurd Wannebach an den Friedrich-von-Schiller-Gedächtnisstätten e. V. Marbach / Weimar (Dritte Folge)

Jenes Skelett, das der Jenaer Prosektor Schröter mit Hilfe des Museumsschreibers Färber aus den Knochen des Kassengewölbes zusammenstellte und als das Schillersche ausgab, muß noch im späten Nachhinein samt und sonders angezweifelt werden.

Einem aufmerksamen und anatomisch hinlänglich vorgebildeten Leser ihrer pseudowissenschaftlich zweisprachigen Auflistung aller aufgefundenen wie auch der fehlenden Knochen hätte auch damals schon auffallen müssen, daß dieses Verzeichnis geschickt manipulierte und verschleierte.

So läßt zum Beispiel die Angabe von sieben vorhandenen Halswirbeln, acht vorhandenen und vier fehlenden Brustwirbeln, vier vorhandenen und einem fehlenden Lendenwirbel leicht überlesen, daß das Rückgrat dieses präsentierten Skeletts insgesamt fünf Lücken, also ganze zehn blinde Anschlüsse aufwies und daß eine Zusammengehörigkeit der vorgelegten Wirbel so also gar nicht beweisbar war.

Ferner fiel durch eine anatomiebedingte Strategie dieser Liste nicht sofort auf, daß weder ihr Habet noch das Debet über Hüftbeine, Manubrium oder Brustbeinhandgriff und Zungenbein verfügte. Sie alle waren weder hier noch da, also gar nicht vorhanden. Auch Handwurzelknochen und Speichen fehlten. Sogar der Atlasknochen, der den entscheidenden Zusammenhang von Schädel und Wirbelsäule nachwiese und für jegliche Knochensuche der ausschlaggebende Ansatzpunkt, die unabdingbare Voraussetzung gewesen wäre, war nicht gefunden worden.TOP

Die Behauptung, drei schillerisch authentische Fingerglieder und ein einzelnes echtes Zehenglied seien aufgespürt und identifiziert worden, dürfte angesichts vieler Hunderter solcher Knochen im durchgewühlten Kassengewölbe die Grenze zur Scharlatanerie erreichen. Dasselbe trifft auf die Notierung von 23 angeblich echten Rippen zu, die in einem Massengrabe wie diesem Kassengewölbe schwerlich auszumachen gewesen sein dürften.

Ein kritischer Fachmann wie Henning Fikentscher hat außerdem überzeugend nach- und vorrechnen können, daß Schröters protokollierte Behauptung,

"alle Hauptstücke des Skelettes" und "ein bedeutender Teil der kleinern Gliedmaßen desselben"

hätten sich auffinden lassen, nicht den Tatsachen entsprach. Vielmehr seien nur etwa drei Viertel der langen Röhrenknochen und drei Siebentel der übrigen Knochen als überhaupt vorhanden aufgelistet. Mehr als die Hälfte aller Bestandteile eines vollständigen Skeletts hätten gefehlt.

Daß die vorhandenen vormals auch wirklich zu Schillers Körper gehört hätten, sei umso fragwürdiger, als rechnerisch nur vier bis fünf Prozent all der anonymen Knochen im Kassengewölbe von Schillers Gerippe herstammen konnten. Dabei geht Fikentscher noch von 23 Leichen in dieser Gruft aus. Tatsächlich waren es wohl fast dreimal so viel, so daß Schillers Anteil an all dem eingelagerten und durcheinander gewirbelten Gebein wohl noch sehr viel niedriger war.TOP

Natürlich muß einem so professionellen Anatomen wie diesem Prosektor Schröter allerspätestens beim Anblick der geschilderten drei Kubikmeter Gruftmüll im Kassengewölbe klar gewesen sein, daß die übernommene Aufgabe gar nicht oder allenfalls nur in einem erheblich längeren Zeitraum zu bewältigen sei. Schon die Bestimmung von mindestens viertausend, eher noch sehr viel mehr meist frei herumliegenden Einzelknochen, die allesamt hätten zutage gefördert, umgelagert und an geeignetem Orte ihren vormaligen Eignern zugeordnet werden müssen, wäre ein Pensum für viele Monate oder Jahre gewesen. Es hätte sich durch die erforderliche Befragung der Hinterbliebenen von mindestens neun der hier bestatteten Leichen nach deren Sterbealter, Körpergröße, Krankheiten, Mißbildungen et cetera noch wesentlich erweitert.

Schröter aber eröffnete in seinem Abschlußprotokoll nicht eben unironisch,

"auf diese Geschäfte, welche mit höchster Sorgfalt und Ruhe betrieben wurden, waren f ü n f Tage zu verwenden, nämlich von Sonnabend (den 23. dieses Monats) Mittag bis Mittwoch (den 27.) abends".

Hierbei fällt auf, daß er in dieser Zeitangabe zunächst die Fünf bereits durch Unterstreichung (oder gesperrte Schrift) in ihrer ganzen Absurdität verdeutlichte, ferner indirekt wissen ließ, daß nicht einmal sie ganz den Tatsachen entspricht. Denn in jenen vorgewerkschaftlichen, aber christlich umso orthodoxeren Zeiten war der einbeschlossene Sonntag mit Sicherheit kein Arbeitstag, sondern Tag des Herrn und mithin ein Feiertag, der auch Anatomen, zumal bei einer Arbeit an Leichenteilen, zu heiligen geboten war.TOP

Außerdem mußte jedenfalls Gehilfe Färber am Montag ebendieses Zeitraumes auch noch an der Beisetzung seines vorgesetzten Bibliothekars an der Universitätsbibliothek Jena, jenes eben verstorbenen Prof. Georg Gottlieb Güldenapfel, teilnehmen, so daß sich die insgesamt verfügbare Arbeitszeit noch weiterhin verkürzte. Fritz Donges behauptete noch 1971: "Sie waren nur einen Nachmittag im Kassengewölbe".

Aber ohnehin war ja dem geachteten Experten Schröter mit jenem Bibliotheks- oder Museumsschreiber Färber keineswegs ein anatomisch kompetenter Mitarbeiter an die Seite gestellt, wie Prof. Hecker das noch runde 110 Jahre später mit seinem skrupellosen Plural von "den Jenaer Anatomen" beschönigend vortäuscht. Färber war ungelernter Gehilfe seines Bruders in der Jenaer Bibliothek, wo er gelegentlich dem damaligen Prof. Schiller begegnet sein könnte und wohl auch Goethe hinlänglich auffiel, um bisweilen für persönliche kleine Hilfsdienste herangezogen zu werden, bevor er, 26jährig, von Schillers Schwager Wolzogen als Diener nach Weimar geholt wurde. Aus dieser Position heraus half er allenfalls eine Woche lang an Schillers letztem Krankenbette aus und wurde dort zum vermutlich einzigen wirklichen Zeugen von Schillers Sterben.

Da alles dies entsprechend bekannt war, kann es heute wie damals nur als pure Ironie oder subalterne Liebedienerei zu verstehen sein, wenn Schröter die Anwesenheit eines so unübersehbar dilettantischen Mitarbeiters im Kassengewölbe innerhalb seines Abschlußprotokolls wahrheitswidrig damit legitimierte,

"daß einem der Unterzeichneten, welchen obige Geschäfte übertragen waren, das Glück beschieden gewesen, dem verewigten Schiller mehrere Jahre lang persönlich nahe zu stehen".TOP

Auch deshalb, log oder spottete Schröter, werde es

"zur unumstößlichen Gewißheit, daß hier kein Irrtum obwalten könne, indem nach anatomischen Kennzeichen und lebendiger Erinnerung an die Persönlichkeit Schillers dieses Geschäft mit höchster Gewissenhaftigkeit und Überzeugung vollführt wurde".

Insofern also sei das vorgelegte Protokoll ihrer beider Bemühungen "höchst erfreulich", und beide, so Schröter wie Färber, bezeugten "nach Pflicht und Gewissen" mit ihrer Unterschrift unter dem begleitenden Protokoll "die strengste Wahrhaftigkeit obiger Angaben".

Dem widersprach erst 1971 Fritz Donges in jener Berliner Anthropologen-Zeitschrift:

"Daß das Protokoll Schröter-Färber insgesamt eine glatte Fälschung ist, ergibt sich u. a. daraus, daß kein Mensch (bis zum Jahre 1935) jemals davon Kenntnis erhielt."

Henning Fikentscher, der auch jene protokollarisch beigefügte Knochenliste kompetent zu lesen und zu beurteilen vermochte, bezeichnete knapp zwanzig Jahre später Schröters gesamte Aktion im Kassengewölbe und beim Knochenpuzzle als "Eulenspiegelei", aber auch als "feiste Lüge", sein Protokoll sei "ein einziger Schwindel".TOP

Schon 1924 nannte Schiller-Forscher Hans Gerhard Gräf jene ganze Rekonstruktion von Schillers Skelett "so peinlich und abscheulich (wie sie es jedem zartfühlenden Deutschen sein sollte)", und Mathilde Ludendorff, nicht nur rassistisch fanatische Demagogin, sondern immerhin auch Ärztin, bezeichnete sie vier Jahre später als ein "törichtes Unterfangen" im Dienste einer "Beruhigung der Gemüter"; selbst ihr dezidierter Widersacher, der allzugern euphemistische und verharmlosende Übertüncher Prof. Hecker, kritisierte damals jenes "bedenkliche Unterfangen, zu dem Schädel die andern Gebeine aufzusuchen":

"wir aber schauen nur mit Unbehagen zu".

Wie aber schaute Schröters Auftraggeber zu: Goethe?

Scheinbar arglos und zufrieden. Denn schon am Tage des protokollarisch gemeldeten Vollzuges ließ er den eingeweihten Kanzler von Müller wissen, daß

"die heiligen Reste, über unser Hoffen und Erwarten, nahezu vollständig zusammengebracht und beigelegt worden"seien.TOP

Dieser anatomisch so interessierte wie gebildete Goethe, der sich in Jena von keinem Geringeren als dem Rigenser Prof. Justus Christian Loder, bedeutendstem Anatomen seiner Zeit und immerhin auch Leibarzt Herzog Carl Augusts, persönlich hatte unterweisen und als offiziellen Vorgesetzten des dortigen Anatomischen Kabinetts sogar an praktischen Sezierübungen beteiligen lassen,

dieser selbe Goethe, dessen diverse osteologische Aufsätze im Zweiten Heft seiner Zeitschrift "Zur Morphologie" erschienen und der noch heute zumindest als autonomer Auch- oder Wiederentdecker jenes Intermaxillarknochens oder Zwischenkiefers namens os Goethei gilt,

dieser selbe Goethe hatte nur zwei Tage nach Erhalt jenes scheinheiligen Knochenverzeichnisses keinerlei Hemmung, es am diesem 30. September 1826 auf undurchsichtig indifferente Weise zu verifizieren und also definitiv zu genehmigen: "Durchgesehen von J. W. v. Goethe".

Das war freilich sphinxhaft vieldeutig.

Aber damit erhielt diese obskure Liste alle höchsten Weihen der Wahrhaftigkeit oder Authentizität und galt seither als sakrosankt.

Doch mehr noch: eben an Schillers 67. Geburtstage schrieb Goethe seinem engen Freunde Sulpiz Boisserée

"im Vertrauen, daß für den Augenblick nicht allein der Schädel, sondern die sämtlichen Knochenglieder, durch abwägenden Fleiß unserer vergleichenden Anatomen zusammengebracht, nun auf der großherzoglichen Bibliothek in einem anständigen Gehäuse ordnungsgemäß niedergelegt sind".

Hat Goethe sich von einem Schröter also übertölpeln lassen? Viele glauben das, selbst der gern argwöhnische Fikentscher.TOP

Aber sie übersehen, daß Goethe sich acht Jahrzehnte lang stetig eher mißtrauisch, eher hellsichtig und hellhörig, eher röntgenscharf durchblickend und klarsichtig als naïvlich und allzu gutgläubig erwiesen hat. Jedenfalls die Notiz für Müller, aber sogar die Nachricht für Intimus Boisserée mag vorsätzlich vernebeln und die eigentlichen Absichten dieses strikten Geheimniskrämers und Verschweigers in Gestalt einer offiziellen Lesart verschleiern. Dafür spricht nicht zuletzt im Briefe an Boisserée der Einbezug des allzu wohlbekannten Ignoranten Färber unter die "vergleichenden Anatomen". Da wurde in vielleicht allzu kritische Augen planvoll und prophylaktisch Sand gestreut.

Denn es ist schwerlich vorstellbar, daß einem Goethe angesichts jenes Kassengewölbes und der zutage getretenen dortigen Zustände das vollkommen Utopische, vollkommen Illusorische einer solchen Auffindung bestimmter Gebeine nicht einsichtig und jeden Augenblick bewußt gewesen sein sollte. Schon ein Laie wie Bürgermeister Schwabe hatte das schnell erkannt. Wie sollte Goethe da so tapsig in die Irre gehen?

Es gibt nirgends, auch nicht in Tagebüchern oder Briefen, den geringsten dokumentierten Hinweis auf Goethes geheimste Pläne in dieser Angelegenheit, auch nicht auf seine Absprachen mit jenen "vergleichenden Anatomen" aus Jena, die in ihrem Protokoll immerhin verrieten, dieses ganze Abenteuer der Knochensuche nur auf sich genommen zu haben,

"um dem hohen Verlangen Genüge zu leisten".TOP

Freilich hatte Kanzler von Müller schon in seinem einladenden Schreiben an Färber betont: "Aus guten Gründen ist zu wünschen, daß nicht viel in Jena über diese Reise verlautbare; Sie brauchen ja nur [ ... ] zu sagen, Herr v. Goethe verlange Sie in einer Privatangelegenheit zu sprechen".

Erst sehr viel später, erst 1971, begriff Fritz Donges: "Schröter-Färber bekamen einen geheim zu haltenden Auftrag von höchster Staatsstelle, bei dem das Ergebnis von vornherein feststand: Das Skelett Schillers m u ß t e gefunden werden."

In solchem Sinne können wir heute nur Hypothesen aufstellen:

1. Goethe wünschte Unmögliches. Schröter lieferte es mit Hilfe von Betrug, den Goethe nicht durchschaute.

Unwahrscheinlich.

2. Goethe wünschte Unmögliches. Schröter lieferte es mit Hilfe von Betrug, den Goethe sehr wohl durchschaute, gleichwohl hinnahm.

Aber warum?

3. Goethe wünschte Unmögliches. Schröter bezeichnete es als solches. Sie einigten sich auf gemeinsamen Betrug.

Nicht ausgeschlossen.

4. Goethe wußte schon vorher, daß er von Schröter Unmögliches verlangen und dieser das verweigern mußte. Also schlug er ihm selbst den Betrug vor, der insofern primär sein eigener Betrug war.

Am wahrscheinlichsten.

Hieraus ergibt sich zwingend die Frage nach Goethes Motiven.

Entweder: in der Einsicht, daß Schillers Gebeine unauffindbar und unwiederbringlich verloren sind, war es Goethe lieber, ein Symbol dieses Leibes vor Augen zu haben als dessen spurloses Verschwinden unterwürfig hinzunehmen. Poetisches Aufbegehren also gegen unsere Auflösung ins Nichts.TOP

Oder aber: Goethe wollte nicht sich selbst, sondern die Umwelt beschwichtigen - wen immer er darunter verstand. Sein Herzog, dessen Hof, die Hinterbliebenen des Toten, die Gemeinde der Schillerverehrer, die allgemeine Öffentlichkeit oder sonstige Interessenten: sie alle konnten so glauben gemacht werden, daß mit dem sachkundig aufgespürten Skelett zum Schädel die ganze nach wie vor zwielichtige Angelegenheit um die Beisetzung von Schillers sterblichen Resten nunmehr ein seriöses und allgemein befriedigendes Ende gefunden habe.

Nur er selbst in all seiner 77jährigkeit und dieser auch nicht mehr ganz junge, vielleicht gar unter Eid gestellte Prosektor, dessen graphologisches Psychogramm ihn zumindest dem Spurensucher Fikentscher als durchaus rechtschaffen und glaubwürdig ausweist, würden das Geheimnis wissen und in ihre Gräber mitnehmen. Selbst der herzogliche Freund und dessen nahestehender, all-einbezogener Kanzler, selbst Busenfreund Boisserée und Schillers Sohn - keiner von ihnen allen wurde eingeweiht: in diesen klassischen Schelmenstreich.

Mundus vult decipi:war es das?

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Illustration : Schiller Illustration : Schiller

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