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AUTOR VON "HAHNENSCHREIE", "LIEBESBRIEF AN FREMDEN KÖNIG" UND SCHILLER-TRILOGIE ("STERNGUCKER ODER ...")



Aus "Hahnenschreie Band 2"

Silvester

In einer Silvesternacht sitzt Yan allein in seiner Wohnung und denkt an andere Silvesternächte.

Er hat schon in vielen Silvesternächten allein in seiner Woh­nung gesessen und an andere Silvesternächte gedacht.

In den Silvesternächten seiner Kindheit lernt er das so. Für seine Eltern ist Silvester ein stilles, introvertiertes Fest, das zu Rückblick und Einkehr Anlaß bietet. Es wird am Weihnachts­baum, bei Kerzenschein und Musik, mit besinnlich angehobe­nen Gesprächen oder bedeutend gefühlvollem Schweigen ver­bracht.

Mit dieser Tradition wird erstmalig gebrochen, als Yan 14 ist: die Erlebnisse von Leuchtenburg und Weimar liegen kurz zu­rück und signalisieren bereits das nahende Ende seiner Kind­heit. Diesmal verbringt er die Silvesternacht mit seiner Schwe­ster Hanne im ungeheizten und unbeleuchteten Eisenbahnabteil eines Zuges von Leipzig nach Westberlin. Ihre Eltern sitzen kriminalistisch in einem anderen ungeheizten und unbeleuchte­ten Abteil desselben Silvesterzuges und rechnen darauf, daß die sowjetischen Kontrollorgane in Marienfelde so silvesterlich alkoholisiert sind, daß sie pflichtsäumig diese familiäre Repu­blikflucht von Ost nach West nicht zur Kenntnis nehmen.TOP

Solche Rechnung geht auf. Kein Rotarmist wird sichtbar. Und als der Zug dann im Anhalter Bahnhof einläuft, hat für Yan nicht nur das Jahr gewechselt, nicht nur das kalendarische Jahrzehnt, sondern auch gleich seine Zugehörigkeit zu Staat, Hegemonie und Globushälfte. Mit der Deutschen Demokrati­schen Republik läßt er auch seine Kindheit hinter sich. Als Sil­vesterfeierlichkeit ist diese Zug- und Fluchtnacht also Tief- und Höhepunkt zugleich.

Silvester als Tiefpunkt erlebt er mit Gudrun in Casablanca, wo es ein Höhepunkt ihrer Marokko-Reise sein soll. Aber schon nach ihrem nachmittäglichen Rundgang durch die Casbah fällt es schwer, für ihr festlich konzipiertes Silvester-Diner ein an­gemessenes Speisehaus zu finden, weil sie bei allen guten Adressen vor geschlossenen Türen stehen. Schließlich müssen sie froh sein, mit eher unguter Adresse mehr schlecht als recht ihren rechtschaffenen Medina-Hunger stillen zu können;TOP

aber nach karger Mahlzeit stehen sie verloren mitten in einer hermetisch verschlossenen Araberstadt, in der auch keinerlei Bar oder Nachtlokal den bevorstehenden Jahreswechsel öffent­lich und mit Gästen, gar ungläubigen Ausländern zu feiern ge­denkt. Auch keinerlei "Rick's Café Américain". Gegen zehn am Silvesterabend geht Casablanca schlafen samt Ingrid Bergman und Humphrey Bogart, und nur mit Bestechung gelingt es Yan und Gudrun unter beträchtlich tollkühnen Mühen, noch einen letzten Taxifahrer aus seiner Wohnung herauszulocken und sich mit schwankend dubiosem Gefährt zu ihrem Hotel im dreißig Kilometer entfernten Mohammedia fahren zu lassen, wo die Hotelbar ihnen zwischen hochgestellten Stühlen wenig­stens schnell noch eine schamlos überteuerte Flasche Champagner verkauft, den sie dann auf ihrem Zimmer aus den Zahn­putzbechern trinken: "Prost Neujahr in Casablanca!"

Silvester hingegen als Höhepunkt wohlstandsbürgerlicher Bravheit bei solider deutscher Brauchtumsküche, deutschem Schaumwein und drei kokelnd schnurzelnden Feuerwerkskör­pern vom Balkon in solider Wohngegend: so verläuft ganz plan- und konventionsgemäß die kollegiale Einladung bei Claus Helmut Drese, späterem Direktor der Staatsoper Wien.

Silvester wiederum als Tiefpunkt, diesmal primitiver Fantasie­losigkeit und proletarisch-bäuerlichen Stumpfsinns: so erlebt Yan den Jahreswechsel inmitten einer katholisch-franquistisch prüden Engtanzfête in der Diskothek eines winterlich geschlos­senen Touristenhotels auf Formentera, wo die einheimischen jungen Angestellten mit ihren lustlosen Bräuten und bei Bier oder Fanta die einzige Silvesterfeier der ganzen Insel veranstal­ten, trist und kümmerlich ins nächste Jahr hinüberhotten und keinerlei Einfall entwickeln, wie sie ihren grauen Alltag über­dies irgend zu einem Fest gestalten können.

Silvester als funkelnder Höhepunkt mit eingesprenkeltem Tief­druck: das ist, in eisigstem Schneesturm, die handverlesen pri­vate Festlichkeit bei Boy Gobert in dessen Wiener Haus am Sulzweg, wo er später, traumgemäß, auch stirbt. Aber noch ist es kurz vor seinem Amtsantritt als Hamburger Intendant und mitten in einem gravierenden Einschnitt seines Lebens;

alles ist hier vom allerfeinsten: das Mahl, die Getränke, die Ge­spräche, die Pläne und Hoffnungen - vor allem jedoch die erle­sen wenigen, aber hochprominenten Gäste sowie der Gastgeber selbst natürlich samt seinem vormalig geliebten Freunde;TOP

aber Spannung liegt in der vornehmen Luft: eine Aufbruch- und Abbruchstimmung, hochfliegend ebenso wie auch niederdrückend, Lachlust wie nervöse Ungewißheit, frohe Erwartung von Neubeginn im neuen Jahr an neuem Platze mit neuen Menschen, Wehmut des Abschieds auch mit Trauer und Grausamkeit, lau­ernde Eifersüchte auf all dies Neue und wachsame Hellhörig­keit für erblühende Sympathien, für schmerzliche Verlagerung von Prioritäten, Kontakten, Vertraulichkeiten; Untertöne und spitze Bemerkungen mitten im grellen Gelächter, heitere Be­freiung mit scheeler Mißgunst gesprenkelt: der große Wechsel nicht nur zweier Jahre ...

Später in Hamburg dann offiziellere Silvesterabende bei Boy Gobert in seiner Harvestehuder Wohnung, Abteistraße: wieder vom allerfeinsten, aber weiterkreisig, weniger intim, im Erfolg und vor Ort etabliert und verpflichtet, mit Prominenz aus Kul­tur und hanseatischer Gesellschaft, weniger lauernd und belau­ert, gleichwohl schwirrend und sirrend und toxisch gesprenkelt: habt Acht im Neuen Jahr!

Silvester als seelischer Tiefpunkt dann mit böser Lust am Eclat: Yans provozierender Einzug als verwahrlost schmutziges en­fant terrible ins silvesterlich festlich gestimmte Atlantic-Hotel an der Alster, wie er ihn Paulus beschreibt, und seine tief de­pressive Mitternachtseinsamkeit, wie er sie Paulus nicht be­schreibt, vor der Mini-Glotze des Nobelobdachs ... Schlafta­bletten! Am Neujahrsmorgen fehlt dann ein Schuh vor der Zimmertür und stiftet willkommenen Anlaß für Zeter und Mordio und Beschwerde, in was für eine Absteige Yan hier ge­raten sei: außen so hui und innen also pfui ... als Rache für ge­stern und Ausgleich, soziale Gerechtigkeit, verdiente Demüti­gung des Hochmuts und Wollust der Revanche ... ein anarchi­sch arges Silvester.TOP

Silvester als Höhepunkt und anarchisches Glück, als Glück und anarchischer Höhepunkt: im Hamburger Hafen. Hier sind zehntausend Bären los, und hier geht deren Post ab: "Volkes wahrer Himmel", die Millionenstadt gerät aus den Fugen, ist außer Rand und Band, fraternisiert pauschal, bricht aus und entfesselt sich in totaler Bambule ...

Yan geht da kurz vor zwölf mit Yussuf auf die privat geheuerte Barkasse eines Kollegen, die mit Film- und Theaterleuten an Bord durch Hafen und Speicherstadt schippert und das Spekta­kel des Jahreswechsels, diesen knallig bunten Exzeß, von fließenden archimedischen Punkten auf der Elbe mit gebührendem Abstand und als ambulante Enklave mitzugenießen Gelegenheit bietet.

Kaum an Bord, springt Yussuf schon Yan in den Rachen: er küßt ihn erbarmungslos tief, saugt ihn aus, stülpt ihn um und verschlingt ihn. Die Filmleute gucken. Yan taucht in Yussufs Rachen ab, saugt ihn aus, stülpt ihn um und verschlingt ihn. Die Theaterleute gucken;

die Barkasse verläßt die Landungsbrücken, gleitet elbabwärts den Hafen entlang. Yan und Yussuf bemerken es nicht, sie versinken: Yussuf in Yan und Yan in Yussuf. Die Sektkorken knallen ringsum. Yan küßt Yussuf, Yussuf Yan;TOP

die Barkasse wendet und tuckert elbaufwärts. Die Film- und Theaterleute machen eine Bordpolonaise: Yan und Yussuf inmitten ertrinken ineinander. Die Sektkorken knallen. Die Barkasse passiert die mitternächtlich bizarren Engpässe der hi­storischen Speicherstadt mit ihren gespenstischen Silhouetten. Yan saugt Yussuf, Yussuf Yan aus. Die Sektkorken knallen. Die Bordpolonaise verliert den Verstand und wird Bordgalopp. Yan und Yussuf inmitten ersticken einander, halb mit- und um­gerissen vom ekstatischen Bordgalopp. Sie fallen über Hark Bohm;

die Barkasse ist pünktlich im Hafen zurück. Die Sektkorken knallen. Knallkörper knallen. Raketen zischen. Papierschlangen fliegen. Yan und Yussuf penetrieren sich bilingual. Die Glocken läuten. Die Schiffe glasen. Yan ist in Yussufs Schlund. Ra­keten steigen. Das Feuerwerk knattert, und Yussuf ist in Yans Schlund. Der Hafen leuchtet. Ganz Hamburg leuchtet. Yussuf ertrinkt in Yans Schlund. Die Glocken läuten. Ganz Hamburg strahlt. Die Schiffe glasen, und Yan ertrinkt in Yussufs Schlund. Auch die Film- und Theaterleute küssen sich jetzt. Der Hafen tobt. Ganz Hamburg tobt. Die Schiffe glasen. Die Glocken läuten. Das Feuerwerk knattert und strahlt, und Yan und Yussuf verschmelzen miteinander: inschallah ...

Als sie auftauchen, sind sie bei "Vick am Fischmarkt", einer winzigen urigen und total überfüllten Hafenkneipe, dicht an dicht mit Stauern und Kiezlern und Theatervolk, bei Schiffer­klavier und Klarem und Schwof und Geknutsche, Yan stülpt Yussuf und Yussuf stülpt Yan um, mitten im Schwof bei Schif­ferklavier, ein bekannter Fotograf starrt Yan an und begreift und fotografiert mit bloßem Gehirn, wie Yan seinen Yussuf und Yussuf seinen Yan immer küßt und küßt und verschlingt und erstickt und aufsaugt und allemacht, mitten im Schwof und bei Schifferklavier und bei "Vick am Fischmarkt" im Stau, oh­ne Platz, ohne Luft, ohne Sinn und Verstand, Schwof bei Vick und Geknutsche und Silvester im Hamburger Hafen ...TOP

Als Yan und Yussuf gegen Morgen über das Schlachtfeld von Flaschen, von Papierschlangen- und Knallkörperresten gen Landungsbrücken taumeln, muß Yussuf just an der Hafen­straße, die still und friedlich ins neue Kalender- und Kampfjahr dämmert, all den Sekt und den Klaren und das Bier und den Sekt in diese gewaltlose Hafenstraße pullern, und er küßt Yan zum Interruptus und pullert und pullert und Yan kann Yussuf beim Pullern nicht küssen und hält stattdessen seine Hand ins dampfend warme Gepuller hinein und läßt sie bepullern und bepullern, er kann ihn nicht küssen und kann sich nicht helfen und kann da nicht anders und ist glücklich und genießt es und gibt und verströmt sich und will Yussuf verschlingen und ihn fressen und verschlucken mit all dem Gepuller und verfällt und vergeudet sich und löst sich selbst auf in all dem Gepuller vor Glück und Genuß und Verfallenheit und Silvester und Neujahr.

"Was wird das alles geben?" fragt er mit der Hand in Yussufs Gepuller.

Und Yussuf sagt pullernd: "Eine Katastrophe."

"Prost Neujahr."

"Prost Neujahr."

Na, Gott wird schon machen ...

Jahre später spielt Yan mit dem Gedanken, dieses Glückser­lebnis mit Yussuf der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu­gänglich zu machen. Deren Leser könnten daraus lernen, wie man zu Silvester einen türkischen Bären losläßt, sein coming out gestaltet und sich aller Welt hemmungslos zeigt ...

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Der Hahn schreit Der Hahn antwortet

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