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AUTOR VON "HAHNENSCHREIE", "LIEBESBRIEF AN FREMDEN KÖNIG" UND SCHILLER-TRILOGIE ("STERNGUCKER ODER ...")



Aus "Hahnenschreie Band 1"

Nikolai

Yan schreibt endlich den schon seit langem überfälligen nächsten Brief an seinen Freund Severin:

Lieber Severin,

Als ich 14 bin, spiele ich in einer Schüleraufführung von Nikolai Go­gols genialer Komödie "Der Revisor" einen jener bestechlichen Kaufleute, die bei der Petersburger Uraufführung die ganze russische Kaufmannschaft gegen Gogol so aufzubringen ver­mögen.

Nach meiner eigenen pubertären Darbietung solch eines Kauf­manns also wird unser halb kindliches Ensemble nach vier umjubelten Vorstellungen belobigungshalber zu einem ge­meinsamen Ferienaufenthalt in den Thüringer Wald geschickt.

Dort leben wir zwei Sommerwochen lang in einer Burg, die sich seit über tausend Jahren oberhalb des Städtchens Kahla im damals noch glasklaren Wasser der liebenswürdig-friedlichen Saale spiegelt: zwischen Jena und Rudolstadt in der Leuchtenburg.

Nach Art von Landschulheimen und Jugendlagern führen wir da ein Leben, das sich aus frotzelnd provozierendem Imponiergehabe der halb­garen Knaben vor den halbgaren Mädchen und aus unbarm­herzigen Küchendiensten zusammensetzt.

Ich selbst trete da schnell meine probate Flucht in kreative Versuche an, rege Exkur­sionen in die histo­risch so bedeutende thüringische Umgebung an und organisiere sie. Der Geist muß helfen.

Da ist dann Weimar über jede Erwartung erhaben, über alle Maßen bewegend. Dort bin ich am 1. August.

Schon am Frauenplan das Goethe-Haus, dessen Bombenschä­den just behoben sind, erobert meine Begeisterungslust. Als ich aber kurz danach zu Füßen des Goethe-Schiller-Denkmals vor dem Nationaltheater stehe, bin ich schon in einem Rausch und halte es für normal, daß dieser Theaterplatz von einer wartend dastehenden Zuhörermenge und einer leicht monoton zelebrierenden Lautsprecherstimme erfüllt ist, die, selbstverständlich und trotz der werktäglichen Vormittagsstunde, über deutsche Geschichte und über Goethe spricht: das ist eben Weimar!TOP

Der Stimme zuzuhören, vermag ich aber vollends nicht mehr, als ich beiläufig erfahre, daß sie Thomas Mann gehört.

Nach 16jährigem Exil feiert er da leibhaftig auf Goethes Bühne seinen ersten Besuch des postfaschistischen Deutschland in Koïnzidenz mit Goethes 200. Geburtstag, indem er seine "Ansprache im Goethejahr" gleich doppelt, nach dem westdeutschen Frank­furt nun eine Woche später auch hier im ostdeutschen Weimar, persönlich vorträgt und dafür just im Augenblick den Goethe-Nationalpreis der östlichen Staatshälfte sowie den Ehrenbür­gerbrief der Stadt Weimar in Empfang nimmt.

Ich bleibe also wie gebannt zu Goethes und Schillers bronze­nen Denkmalsfüßen stehen und sehe Thomas Mann schließlich höchstselbst das "Deutsche Nationaltheater" verlassen. Höflich distanziert entzieht er sich all der umbrandenden Huldigung in einer sommerlich offenen Limousine, und beseligt traumwandlerisch absolviere ich mit meinen Kumpanen unser weiteres Pensum an Besichtigungen dieses immer gesprenkel­ter schillernden Ortes.

Auf dem Wege zum Schillerhaus machen wir zu guter Letzt Station dann sogar am Franz-Liszt-Haus, wenn auch meinerseits mit leichter Ge­ringschätzung dieses Virtuosen, der meiner 14jährigkeit allzu oberflächlich erscheint.

Richtig verwehren uns denn auch Polizisten schon am schmie­deeisernen Gartentor den Eintritt zu dieser verachteten Gedenk­stätte mit der Begründung, daß sie im Augenblick für die Öffentlichkeit gesperrt sei, weil sie gerade von Thomas Mann einer Besichtigung gewürdigt werde. Mein Glück ist sofort vollkommen und wird von Beethovens Klaviersonate opus 111 begleitet, deren Wiesengrund-Thema, auf dem Flügel Franz Liszts gespielt, durch die sommerlich geöffneten Fenster dringt und eine Hommage an Wiesengrund Adornos Analyse dieser Musik in Thomas Manns "Doktor Faustus" darstellt. Für mein 14jährig ahnungsloses Erwartungsfieber sind es pure Sphärenklänge.TOP

Ich brauche nicht lange zu warten, um Katia und Thomas Mann mit kleiner Suite durch den Garten und direkt auf mich an der Pforte zukommen zu sehen. Ich passe die geeignete Entfernung ab, trete dann Thomas Mann entgegen, stelle ihm uns als Schülergruppe auf Reisen vor und bitte ihn um Auto­gramme für meine Freunde und mich. Sofort fährt Katia, deren Mutter Hedwig Dohm, damals fünfzehnjährig, hier Franz Liszt im­merhin noch leibhaftig kennenlernt, energisch dazwischen, fragt im bedenklichen Tone einer femme dure, wieviele wir denn seien und zählt unser Quintett flugs ab: "Na, das geht ja noch!"

Denn inzwischen hat Thomas Mann in stummem Einverständnis mit mir und wie ein männlich-brüderlicher Komplize bereits meinen dargebotenen gelben Drehbleistift ergriffen und schreibt mir schon auf den winzigen Zettel aus meinem gottlob mitgeführten Notizbuch seinen hohen und kostbaren Namen auf. Seine Linke und meine Rechte halten dabei gemeinsam ein Buch - was auch sonst - als Unterlage fest, auf der er, immer noch wortlos und mit edlem Lapis Lazuli am rechten Ringfin­ger, auch die andern Autogramme zu minderwertig grauem Ostzonen-Papier bringt.TOP

Thomas Mann gibt Yan ein Autogramm

Thomas Mann gibt Yan ein Autogramm

In all der beredten Sprachlosigkeit dieses Augenblicks höre ich nunmehr seraphische Engelschöre singen, und möglicherweise tut meine 14jährige Seele dem großen Signierenden den Gefal­len, vor lauter Rausch gar nicht mehr recht unterscheiden zu können, ob da nun gerade Thomas Mann oder der allgegen­wärtige genius loci, Goethe persönlich, vor mir steht und für mich schreibt. Ergo ist meine Schüchternheit so grenzenlos existentiell, daß auch ich kein Wort aus meiner ausgetrockne­ten Kehle hervorzubringen imstande bin. Mir fiele auch keins ein.

Nach vollzogener Skriptur reicht Thomas Mann mir Drehblei­stift und Buchunterlage in penibler Sorgfalt, aber wortlos zu­rück, und immer noch wortlos, gibt er mit seiner Rechten, jener rechten Hand, die "Buddenbrooks", "Zauberberg", "Tonio Kröger" und die Josephs-Tetralogie zu Papier bringt - mit dieser rechten Hand also gibt er jetzt meiner linken Schulter einen väterlich-freundschaftlich liebevollen Ritterschlag. Er wiederholt sofort diesen Ritterschlag: wortlos, aber mehrmals und nachhaltig, mit dem unübersehbaren Bemühen um einen Aus­druck des Wohlwollens und der Sympathie, das fühle und ver­stehe ich deutlich.TOP

Ich würde diese Demonstration nur allzugern erwidern, in irgendeiner Form, aber meine Schüchternheit blockiert na­türlich eine jegliche Liebesgeste.

Wie ich den Rest dieses 1. August in Weimar verbringe und wie der Aufenthalt im Thüringer Walde in memento Nikolai Gogols überhaupt zu Ende geht: das alles weiß ich nicht mehr.

Ich weiß nur, daß ich zu Hause wie ein Süchtiger "Buddenbrooks" verschlinge, mit deren betörendem kleinen Hanno ich mich, bevor er in etwa meinem eigenen derzeitigen Alter stirbt, wohl noch mehr zu identifizie­ren vermag, als sogar Thomas Mann selbst das kann und tut.

Meine hingegebene Lektüre wird nur für eine Ostberliner Illustrierte unterbrochen, deren Bildreportage über Thomas Manns Weimarbesuch auch ein Foto von Thomas Mann, meinem Drehbleistift, unserer Buchunterlage und mir selbst in jenem entscheidenden intimen Augenblick der Tuch­fühlung und des Schulterschlusses für die Ewigkeit festhält. Den Höhepunkt des Ritterschlages allerdings: den hat dieser Fotograf verpaßt. Das ist auch gut so, der ist viel zu privat für eine Illustrierte. Den muß nicht jeder sehen. Der gehört nur uns beiden: Thomas Mann und mir.

So viel, lieber Severin, über den faktischen Hergang jenes lange zurückliegenden Erlebnisse -.

Da klingelt es. Yan muß seinen Brief unterbrechen.

Der Hahn schreit Der Hahn antwortet

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